- Stadt: Urbane Wohnformen der Zukunft
- Stadt: Urbane Wohnformen der ZukunftSchutz vor Witterungseinflüssen, eine Schlafstatt und privaten Rückzugsraum — auch in Zukunft werden Wohnungen vor allem diese Grundfunktionen zu erfüllen haben. Klar ist, dass mit der weiteren Verstädterung auch die urbanen Wohnformen noch stärker nachgefragt werden. Fraglich bleibt indes, ob es sich die mittelständischen Bewohner der Städte in den westlichen Industrienationen angesichts des knapper und damit teurer werdenden Bodens noch werden leisten können, den Traum vom »schönen« Wohnen zu erfüllen. Das deutlich veränderte Leben der Menschen in aufeinander folgenden Abschnitten mit jeweils unterschiedlichen Wohnansprüchen lassen es ohnehin fraglich erscheinen, ob das für mehrere Generationen taugende Wohnmodell »Familiendomizil« noch Zukunft hat.In den Städten der Schwellen- und Entwicklungsländer werden die Menschen wie bisher versuchen, ihr Wohnumfeld zu verbessern — sei es durch einen Wasser- und Abwasseranschluss am unteren Ende der sozialen Skala oder sei es das kleine Reihenhäuschen sowie die moderne Komfortwohnung für den zahlenmäßig sich weiterentwickelnden Mittelstand. Lediglich für die reiche Oberschicht wird es überall auf der Welt so bleiben, wie es ist: Wenn Geld keine Rolle spielt, lässt sich der Luxus dort ausleben, wo es am schönsten ist.Metropolen als Laboratorien für modernes WohnenNoch ausgeprägter als die Zunahme der städtischen Bevölkerung ist der weltweite Trend zum urbanen und suburbanen Wohnen. Schließlich fördert ein Bündel aus demographischen, kulturellen, technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen das Leben in komfortableren, technisch anspruchsvolleren Häusern und Wohnungen auch in ländlichen Regionen.In den hoch entwickelten Industriestaaten Westeuropas und Nordamerikas ist dieser Prozess bereits nahezu flächendeckend abgeschlossen: Auch schottische oder oberbayerische Milchbauern leben heute in der Regel in zentralbeheizten Häusern mit modernen Küchen und Bädern; sie können ebenso viele Fernsehsendungen empfangen, per Mobilfunk jederzeit telefonieren und in nahezu ebenso gut sortierten Supermärkten einkaufen wie Städter.In den Städten wiederum verändern sich die Wohnverhältnisse seit Jahrzehnten vor allem hinsichtlich dreier Maßzahlen stetig: Die Zahl der Menschen pro Wohneinheit sinkt, die Wohnfläche pro Kopf steigt und die Qualität der Wohnausstattung wächst. So steigt etwa die Zahl elektrotechnischer und elektronischer Geräte pro Haushalt weiter an. Besonders schnell nehmen telekommunikationstechnisch voll versorgte Haushalte zu, ausgestattet mit Kabel- und/oder Satellitenfernsehempfang, Mobilfunk und Internetanschluss.Dies hat seinen Preis — wirtschaftlich, sozial und ökologisch: Weniger wohlhabende und vor allem junge Familien weichen ins Umland der Städte aus. Dort wiederum gleichen sich städtische und ländliche Wohnformen zusehends einander an. So beeinflussen — und verstärken — sich Stadtentwicklung und Wohntrends gegenseitig. In Stuttgart zum Beispiel sank die Einwohnerzahl innerhalb der Stadtgrenze in den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts um rund 100000 Menschen, während die Zahl der Wohnungseinheiten um etwa 70000 zunahm. Innerhalb der Stadtgrenzen der baden-württembergischen Landeshauptstadt sind Wohnungen fast nur noch für Wohlhabende bezahlbar, ist der Traum vom Eigenheim nur noch für Millionäre realisierbar. Die Abstimmung per Möbelwagen zugunsten erschwinglicher, größerer und modernerer Wohnungen im Umland bescherte Stuttgart einen uniformen »Speckgürtel«. Praktisch jedes Dorf im 50-Kilometer-Umkreis um die schwäbische »Metropole« verlor sein ehemals bäuerliches Gepräge.VorstadtgeschwüreDer generelle Trend zum urbanen und suburbanen Lebensstil herrscht auch in Schwellenländern wie Brasilien oder Malaysia vor, ebenso in der sozialen Oberschicht und Mittelklasse der Entwicklungsländer. Allein in Indien leben bereits mindestens 150 Millionen Menschen in Reihenhäusern oder Apartments, mit Satelliten-TV und zunehmend auch mit eigenem Motorroller oder Auto. Der quellende Häuserbrei der sich ausdehnenden Vorstädte scheint hier so unvermeidlich wie in westlichen Großstädten.Für die meisten Bewohner der Slums — und noch mehr für die Millionen von Obdachlosen — in den Megastädten der Dritten Welt ist an der Wende zum 21. Jahrhunderts eine feste Behausung mit Elektrizitäts-, Wasser- und Abwasseranschluss ein nahezu unerreichbares Ziel. Dennoch zeigen Beispiele aus dem indischen Mumbai ebenso wie aus dem westafrikanischen Abidjan oder dem südamerikanischen Sao Paulo: Mit Eigeninitiative plus sinnvoller staatlicher und nicht staatlicher Hilfe lassen sich zumindest Teile von Elendsquartieren zu bescheidenen, aber menschenwürdigen Wohnvierteln verbessern. Solche Erfolge sind indes kaum sichtbar, da ständig weitere bettelarme Familien aus ländlichen Gegenden hinzuströmen.Der Bau neuer und qualitativ besserer Wohnungen wird das Schicksal vor allem der Megastädte der Dritten Welt im 21. Jahrhundert bestimmen. Einige Zahlen aus China verdeutlichen die schon jetzt kaum vorstellbaren Dimensionen: Das Nationale Bauministerium in Peking legte Mitte der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts einen Plan auf, nach dem bis zum Jahr 2010 rund 500 neue, kompakte Städte mit je 200000 Einwohnern vom Reißbrett weg hochgezogen werden sollen. Damit die jährlich rund zehn Millionen Landflüchtlinge im Reich der Mitte eine neue Bleibe finden, müssen jeden Monat so viele Wohnungen gebaut werden wie für ein neues Köln, jedes Jahr so viele wie für ein neues Baden-Württemberg.Im dicht besiedelten Kernland der Volksrepublik China bleibt angesichts solchen Bedarfs nur ein Ausweg, und zwar der nach oben. In den neu errichteten Wohntürmen sind die Flächen pro Wohneinheit und Kopf zwar, gemessen am westeuropäischen oder US-amerikanischen Standard, ziemlich bescheiden, die technische und hygienische Ausstattung ist aber kaum schlechter.Die Hightechschlösschen der SuperreichenEine ähnlich hohe Wohndichte pro Quadratkilometer wie etwa in Hongkong erreichen im Westen allenfalls einzelne Viertel in Manhattan. Hier, in exklusiven Wohnhochhäusern der Upper East Side sowie in anderen Nobelquartieren erproben Reiche und Superreiche das Hightechwohnen des 21. Jahrhunderts: »Intelligente« Häuser und Eigentumswohnungen in bis zu 300 Meter hohen Türmen, in denen modernste Baumaterialien, Computer und Mikroprozessoren im Verbund mit luxuriösen Einrichtungsgegenständen aus aller Welt in jeder gewünschten Stilrichtung für höchsten, individuell ausgerichteten Komfort sorgen. Das wohl berühmteste Beispiel eines solchen »smarten Hauses« ist das riesige Anwesen des Microsoft-Chefs Bill Gates. Der Multimilliardär ließ sich in der Nähe von Seattle im US-Bundesstaat Washington eine Art »begehbaren Computer« errichten. Im Prinzip unterscheidet sich Bill Gates' »smart home« wenig von den Palästen früherer Potentaten, die mit Heerscharen von Bediensteten und dem jeweils letzten technischen Schrei den maximal erreichbaren Luxus verwirklichten.Normal verdienende Bürger hingegen werden auch im 21. Jahrhundert eher ein Wohnmodell anstreben, das schon vor 2500 Jahren Standard in der antiken griechischen Hafenstadt Piräus war: ein doppelstöckiges Reihenhaus mit ummauertem Hof auf 250 Quadratmeter Fläche. Und dazu selbstverständlich, als Bonus für die modernen Zeiten, fließendes Wasser, Kanalisation und Elektrizität, Telefon-, TV- und Internetanschluss.Die technischen Hilfen und Spielereien dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die urbane Wohnqualität auch in Zukunft von archaischen menschlichen Bedürfnissen geprägt sein wird. Die eigenen vier Wände bieten Schutz vor Witterung und Klima, sie gewähren Nachtruhe und Privatsphäre bei gleichzeitiger Nähe zu anderen Menschen. Diese Werte — Raum, Ruhe und Rückzugsmöglichkeit, vertrautes soziales Umfeld und saubere Umwelt — werden auch für die meisten Menschen des 21. Jahrhunderts begehrte, wenngleich zusehends schwerer erreichbare Ziele bleiben. Denn mit der weiter anschwellenden urbanen Bevölkerung wird das verfügbare Bauland knapp, werden Immobilien- und Mietpreise vor allem in den Megastädten der Dritten Welt weiter steigen, werden Ruhe und saubere Umwelt noch rarer, also kostbarer.Im übertragenen Sinn unruhig wird das Wohnen in den Städten und Vorstädten der Industrieländer aus einem anderen Grund werden. Das eigene Haus oder die große Wohnung als Familiensitz für Generationen erscheinen heute als Auslaufmodelle. Häufige Umzüge in eine jeweils passende und bezahlbare Bleibe dürften künftig die Regel werden: Studentenbude, Einzimmerapartment für den Single, Reihenhaus am Stadtrand für die Familie mit Kleinkind, knapp geschnittene Eigentumswohnung in urbaner Umgebung für die Zeit nach dem Auszug der Kinder, betreutes Wohnen im Alter.So prophezeien Fachleute den Städtern der Zukunft einen Verzicht auf Vertrautes, ein episodenhaft-abwechslungsreiches oder aber nur orientierungsloses Leben. Auslöser des steten Wandels sind nicht nur die demographischen Veränderungen in den überalternden postindustriellen Gesellschaften, der Trend zu Kleinstfamilien und zum langen Singledasein. Auch die Zuwanderer aus ärmeren Regionen werden zunehmend das herkömmliche lebenslange Wohnen im vertrauten Stadtviertel gefährden.Pappkartons, Hightechwaben und LuxusdomizileVier Wände und ein Dach überm Kopf, dazu Herd, Tisch, Stuhl und Bett: Was eigentlich zum Leben genügt und Millionen von Obdachlosen in der Dritten Welt als kaum erreichbares Ziel erscheint, gilt im Westen längst als unzumutbar, weit unter Sozialhilfestandard. »Mit einer Wohnung«, so hatte Anfang des 20. Jahrhunderts der Berliner Zeichner Heinrich Zille die Not der Mieter in der Metropole auf den Punkt gebracht, »kann man einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt.«Den gehobenen Wohnkomfort zu Beginn des neuen Jahrtausends präsentieren einschlägige Magazine glanzvoll so: geräumige Zimmer mit variablen Wänden und einer Solarenergieanlage auf dem Dach des Niedrigenergiehauses, dazu ein Stellplatz in der Tiefgarage, eine Hightechküche, skandinavische Echtholzmöbel im Esszimmer und die italienische Designercouch im Wohnbereich mit reichhaltig gefüllten Bücher- und CD-Regalen, dezent platzierten Kunstwerken, einer raffinierten Beleuchtung und feinster Unterhaltungselektronik, tragbares Telefon und Satelliten-TV, Luxusbad und superbequemes Kingsizebett. Das gilt im Westen längst als allgemein erstrebenswertes Ziel, auch wenn die Mehrheit der Bürger allenfalls Teile davon verwirklichen kann. »My Home is my castle«, heißt es in England, und das »castle« gleicht zusehends weniger einer zugigen, engen Burg als einem höchst komfortablen Schlösschen.Die Kluft zwischen den Ärmsten unter Pappkartons am Straßenrand und den Superreichen in ihren Hightechpalästen wird sich auch im neuen Jahrhundert kaum verschmälern. Wachsen dürfte weltweit dagegen die Zahl derer, die ein Mindestmaß an menschenwürdigem Wohnkomfort erreichen werden — inklusive eines Anschlusses an die Strom-, Wasser- und Abwasserversorgung sowie ans Telefon- und TV-Netz. Teurer Boden und somit knapper bemessener Wohnraum wird auch für die Städter mittleren Einkommens die Regel sein, allerdings mit weitaus komfortablerer Einrichtung, mit einer Fülle an Haushalts- und Unterhaltungselektronik sowie mit leistungsfähigem Anschluss an die globale Tele- und Massenkommunikation. Extreme Auswüchse solcher hoch technisierten Wohnwaben mit Internetanschluss sind in japanischen Metropolen längst bezugsfertig.Neben den weiterhin existierenden traditionellen Wohnungen und Häusern könnten sich künftig weitere Wohnformen entwickeln. Etwa das Modell »Otaku«: Draußen vor dem einzigen, mit dunkelblauer Folie verklebten Fenster tobt das richtige Leben. 27 Millionen Stadtbewohner mit einem Dutzend Millionen Autos hasten, drängeln, hupen. Drinnen, irgendwo im gesichtslosen, chaotisch-ungeplanten Häusermeer Tokios sitzt Yoichi in seiner Zehn-Quadratmeter-Wohnwabe. Ein Futon auf dem Boden, einige Jeans und andere Klamotten an Haken. Kühlschrank, Kaffeeautomat, Mikrowelle. Aufgerissene Fertigmenüpackungen, leere Cola-Dosen. Yoichi hockt dort, wo er immer sitzt: vor dem Bildschirm seines Computers, seinem Tor zur anderen, der virtuellen Welt. Im Internet gibt es alles, was ein Otaku braucht, wie sich die zurückgezogen lebenden Computerfreaks Japans nennen. Yoichi hasst körperlichen Kontakt. Lieber »chattet« er mit Ken aus Sidney oder Imaculata aus Caracas — wer immer es sein mag — über die neuesten »anime«, japanische Zeichentrickfilme. Per Mausklick hinüber ins Diskussionsforum über Korallenfische. Klick-klick. Pizzaservice um die Ecke. Klick-klick. Nacktes Fleisch aus Kalifornien. Klick-klick. Belangloses E-Mail an Sudhir in Bangalore. Auch er bekommt Yoichis Lebensphilosophie ungefragt mitgeliefert: »Das Einzige, was mich kümmert, bin ich.«»Pling!« Ein neues »Fenster« öffnet sich auf dem Monitor. Es zeigt das Gesicht eines jungen Mannes, vom Weitwinkel der an der Tür installierten Videokamera seltsam verzerrt. Ein gelbes »M« ziert den Schirm seiner Baseballmütze. Yoichi öffnet die Tür nur einen Spalt, ergreift wortlos die Fast-Food-Tüte — bezahlt per Kreditkarte via Internet — und schließt die verhasste reale Welt rasch wieder aus.Als Boris C. Babbitt aus dem Lift kommt, öffnet sich die dezent mit dunklem Furnier verkleidete Stahltür zu seinem 300-Quadratmeter-Condominium lautlos. Hier im 52. Stock des Carnegie Hall Tower begrüßt ihn eine frische Frauenstimme mit New Yorker Akzent: »Good morning, Mr. Babbit.« »Warum«, pflegt der 33-jährige Junggeselle seinen Gästen zu sagen, »soll ein Hightechsicherheitssystem nicht auch nett zu mir sein?« Babbit, der seine ersten Dollarmillionen vor fünf Jahren beim Verkauf seiner Internetsoftwarefirma machte, liebt solche technischen Spielereien: eine Butlerstimme, die ihn in astreinem Oxfordenglisch in seiner Londoner Wohnung begrüßt, eine Frauenstimme à la »Irma la Douce« im Apartment auf der Pariser Île St Louis.Am wohlsten fühlt er sich jedoch hier, hoch über Manhattan. Während er den großzügigen, weiß und hellgrau gehaltenen Salon betritt, gleiten wie von Geisterhand bewegt die Jalousien zur Seite und öffnen den überwältigenden Blick hinab zum Central Park. Ohne sein Zutun erfüllt Miles Davis' Trompete mit dem zart-melancholischen Stück »Blue in Green« den Wohnraum. An der Rückwand leuchten auf LCD-Flachbildschirmen zwei Gemälde des Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner in Originalgröße auf: links »Die Straße« in kräftigem Schwarz-Rot, daneben die »Blauen Artisten«.Babbitt, soeben von einem Nachtflug aus Japan zurück, betrachtet zufrieden die beiden Bilder. Sein kürzlich ertüfteltes Computerprogramm funktioniert offensichtlich: Es stellt seine — mit einem »Stimmungswert« kodierten — Lieblingsmusikstücke und -bilder je nach Tages- und Jahreszeit sowie Wetterlage zusammen, sobald ihn das elektronische »Smart-House-Sicherheitssystem« vor der Wohnungstür identifiziert. Automatisch springt dann auch die Espressomaschine an. Drei Minuten nach der Heimkehr schlürft Babbitt seinen Cappuccino. Allein — aber »on top of the world«.Vielleicht nicht gerade einen luxuriösen Eindruck macht das Reihenhaus von Familie Ambani für den Besucher aus Deutschland: vier schmale Etagen mit knapp 120 Quadratmeter Wohnfläche, eine Terrasse samt Satellitenschüssel und ein Stellplatz für den japanischen Kleinwagen aus indischer Lizenzproduktion. Tausende solcher steingewordener Träume der gehobenen indischen Mittelklasse stehen am staubig-ausfransenden Stadtrand Bangalores. Für Indira und Kumar Ambani, ihre vier Kinder und Kumars Mutter ist es das Paradies.»Kein Vergleich mit unserer ersten Wohnung«, strahlt Softwareingenieur Kumar, 38, im luftigen, mit hellen Fliesen ausgelegten Wohnzimmer. »In dem Wohnblock gabs noch nicht einmal Toiletten.« Indira, 34, bekräftigt die Aussage ihres Mannes mit selbstbewusstem Lächeln. Sie und ihre Schwiegermutter, beide im bequemen Sari, hocken im Schneidersitz auf bestickten Sitzkissen. Nebenan, in der modern eingerichteten Küche, setzt Shanti, das Hausmädchen aus Bihar, Teewasser auf. Die beiden Jüngsten der Familie, die fünfjährigen Zwillinge Shalimar und Tai, haben ihre Neugier an dem Besucher bereits wieder verloren: Gebannt hängen sie am Fernseher auf dem perlenverzierten Schemel in der Ecke — dort läuft der »Cartoon Channel« mit amerikanischen Zeichentrickfilmen. »Wissen Sie«, sagt Indira mit spürbarem Stolz, »wir können uns ein bisschen von dem erfüllen, wonach hier alle streben: nach Überfluss.«Wohnmodelle spiegeln Lebensmodelle widerVon der nahen Mariahilfer Straße weht Verkehrslärm durch die offene Balkontür der geräumigen Altbauwohnung. Im ersten Stock des Wiener Jugendstilhauses gießt Elisabeth Hawranek, 76, Kaffee in die Tassen ihrer Mitbewohner. Die Runde der »Wohngemeinschaft Alt & Jung« ist an diesem Septembersonntag zum ersten Mal seit Wochen wieder vollständig: Die allein erziehende Mutter Christiane, 35, kam gestern mit ihrer sechsjährigen Tochter Jona und dem vierjährigen Kevin aus Kärnten zurück; Rita, 29, war bei einem Fortbildungskurs für Altenpfleger in Linz; das Rentnerpaar Ricarda, 75, und Lothar, 78, kurte drei Wochen in Bad Hofgastein; die Musikstudentin Anne, 23, hatte in den Semesterferien an einem Theaterprojekt in Dublin mitgearbeitet.Nur Elisabeth und ihre ebenfalls verwitwete Freundin Paula, 74, sowie Udo, 31, der gehbehinderte Informatiker, waren den Sommer über zu Hause geblieben — und hatten die ungewohnte Ruhe in der Zwölfzimmerwohnung genossen. »Schön, dass ihr wieder da seid«, sagt Elisabeth zu den beiden Kindern. »Mir wars fast zu ruhig. Fast.« Sie blickt zu Udo. Der greift den Wink auf und berichtet von den Umbauarbeiten. Alle Wohneinheiten der WG verfügen nun über eine Nasszelle mit Waschbecken, Dusche und WC; Elisabeth und Paula sowie Anne und Rita teilen sich die beiden alten, großen Badezimmer. Die Fensterscheiben hat der Glaser durch schalldämmendes Isolierglas ersetzt.Die kleine Jona unterbricht den Umbaurapport, weil sie von den Schäfchen auf dem Ferienhof erzählen muss. Anne schwärmt Ricarda von der Stimmung in Dublins Vergnügungsdistrikt »Temple Bar« vor. Und Lothar erzählt Elisabeth von einer Statistik, die er während der Kur gelesen hat: »Im Jahr 2015 werden 71 Prozent der Haushalte aus nur einer oder zwei Personen bestehen. Der Anteil der Haushalte mit fünf und mehr Personen wird auf unter fünf Prozent sinken. Als ich geboren wurde, waren es noch über 40 Prozent. Da kannst du mal sehen, unter was für exotischen Verhältnissen wir leben.« Um Elisabeth Hawraneks Augen bilden sich ungezählte Lachfältchen. »Du meinst also, Nähe und Geborgenheit sind inzwischen exotisch? Wenn die Singles erst einmal lang genug in ihrem eigenen Saft geschmort haben, werden sie erkennen, dass wir ein Modell für das Wohnen der Zukunft sind.«Das allerdings beanspruchen auch Carol und Mick McMillen, beide 35, für ihre neue Heimstatt in Coronation City: altmodisch gestylte, aber architektonisch abwechslungsreiche Häuser in parkähnlichen Gärten mit altem Baumbestand, verknüpft durch geschwungene Straßen, die auf ein zentrales Einkaufszentrum am Ufer eines künstlichen Sees zulaufen. Wiesen, Wälder und Weiher umgeben die Mustergemeinde im amerikanischen »Sunshine State« Florida.Das Brummen von der Autobahn, die etwa eine Meile hinter dem lindgrün gestrichenen Haus der McMillens vorbeiführt, vernehmen sie allenfalls draußen auf der Terrasse und nur bei Westwind. »Es ist so wunderbar ruhig hier«, spricht Carol mit sanfter Stimme ins leise Summen der Klimaanlage hinein. »Und alles so sauber, die Nachbarn sind wirklich nett und das Einkaufszentrum ist nur zwei Minuten von hier.« Und Mick ergänzt: »Vor allem musst du dir keine Sorgen um die Sicherheit deiner Familie machen.«Vor einem Jahr waren er und Carol zusammen mit ihren Töchtern Amy, 9, und Rachel, 6, nach Coronation City gezogen. »Retortenstadt« urteilten die einen Kritiker, »gehobenes Mittelklassegetto« stichelten andere über die von der Disney Corporation geplante und von einer Eigentümergemeinschaft verwaltete Siedlung. Jeder achte Amerikaner lebt inzwischen in solchen Privatgemeinden. Den McMillens ist die Kritik egal. Ihnen gefällt an ihrer neuen Heimat gerade die Mischung aus historisierenden Fassaden und moderner Infrastruktur. So preiswert wie jenseits der dezent begrünten Mauer, die Coronation City umgibt, war das Sechszimmerhaus mit vier Bädern zwar nicht. Aber dafür kann Carol das tun, was sie während eines Studiums in Heidelberg schätzen gelernt hat: »Ich kann endlich mal wieder zu Fuß einkaufen gehen.«Bei Mick, einem Disney-Angestellten, kommt neben dem Lokal- auch der Firmenpatriotismus durch. »Coronation City ist ein Exportmodell. In Lateinamerika oder in Südafrika herrscht ein großer Bedarf an solch schönen, funktionierenden und streng bewachten Enklaven.« Hinter ihm, im Esszimmer mit den schlichten Shaker-Möbeln, prangt ein Luftbild seines Wohntraums — Coronation City im Format ein mal anderthalb Meter.Die Heimatliebe in Block 17Wir haben wirklich Glück gehabt!« Das sagt Xia Chunseng, 28, jedes Mal, wenn er aus dem Fenster seiner vor fünf Monaten bezogenen Wohnung im 33. Stock des Blocks 17 schaut. Mal strahlt der Lebensmittelchemiker dabei seine drei Jahre jüngere Frau Lin an, die wie er für die chinesische Niederlassung eines europäischen Nahrungsmittelkonzerns arbeitet. Mal murmelt er es in sich hinein. Mal nickt er mit dem Kopf ermunternd seinen Besuchern zu, doch hinauszublicken, hinweg über den schmalen Balkon mit der trocknenden Wäsche. »Ah«, staunt der Onkel aus Xiaogang. »Oha«, entfährt es dem langjährigen Kollegen aus der Schweiz, der zur Abenddämmerung in der Neubauwohnung eintrifft.Draußen, hinter einem breiten Gürtel zehnstöckiger Wohnblocks, breitet sich meilenweit die Hochhausskyline der neuen Millionenstadt Shenzhen aus: grau in grau bei Tag, rötlich angehübscht vom Licht der untergehenden Sonne am Abend oder als imposantes Lichtermeer bei Nacht. Hier, in der »Sonderwirtschaftszone«, haben Xia und Lin ein wichtiges Etappenziel auf ihrem persönlichen langen Marsch zu bescheidenem urbanen Wohlstand erreicht: eine nur für europäische Augen knapp bemessene Zweizimmerwohnung. 42 Quadratmeter mit Dusche, WC und modern eingerichteter Kochnische — genug zum Leben, auch für das geplante Kind. Und dazu, was für ein Glück, einen freien Blick über die Stadt, an klaren Abenden bis zur Mündungsbucht des Perlflusses.»Wir hätten auch eine Wohnung dort hinten in Block 23 bekommen können«, Xia deutet mit dem Daumen zurück über seine Schulter, »womöglich im zweiten Stock.« Dort stehen die drei Dutzend genormten, 35 Etagen hohen Wohntürme der Changan-Siedlung mit ihren jeweils rund 800 Bewohnern dicht an dicht — knapp 20 Meter bis zur nächsten Hauswand, an Regentagen kaum noch Licht in den unteren Stockwerken und dazu bei Tag und Nacht die Geräuschkulisse Tausender junger, lebenslustiger Chinesen.»Wir hatten besonderes Glück«, betont auch Lin, während sie dem Besucher grünen Tee nachgießt. »Auch alle unsere Nachbarn sind froh, hier in Shenzhen überhaupt eine Wohnung gefunden zu haben. Wissen Sie, wie viele Leute vom Land hierher in diese Region zur Arbeit pendeln? Mehr als eine Million.« Außerdem, erinnert die junge Chinesin ihren europäischen Gast lächelnd, sei die Größe der Wohnung nicht so wichtig: »Wir leben hier ja viel mehr draußen auf der Straße als Sie in Ihrer Heimat.«In der Tat. Drunten auf den breiten, hell erleuchteten Gehwegen des Viertels schiebt sich — schwatzend, schäkernd, scherzend — eine unüberschaubare Menge meist junger Menschen aneinander vorbei, drängt in neongrellbunt erleuchtete Selbstbedienungsrestaurants oder schart sich um die vielen Imbiss-Stände, die kleine Leckereien anbieten. Bevor Lin und Xia mit ihrem Kollegen in ein Restaurant mit traditioneller kantonesischer Küche einkehren, versucht ihr Gast den Text auf einem riesigen Plakat über ihren Köpfen zu entziffern. Xia kommt ihm zu Hilfe: »Das hat unsere Stadtverwaltung aufgehängt. Auf ihm steht: aLiebe Shenzhen als deine Heimatb.«Auf ein Wort zum SchlussIm Jahr 2000 wird Deutschland Gastgeber einer Konferenz der 21 größten Städte der Erde sein. Ziel des Treffens ist es, Strategien für eine nachhaltige Stadtentwicklung zu erarbeiten, wie sie 1992 auf der UN-Umweltkonferenz von Rio de Janeiro und 1995 im Klimaprotokoll von Kyoto gefordert wurden. Dies zu fördern, ist gewiss ein sinnvolles Vorhaben. Und vielleicht stehen in der Tat Jahrzehnte relativ stabiler politischer und wirtschaftlicher Entwicklung bevor, die allein eine Verbesserung der urbanen Lebensbedingungen für den größten Teil der Stadtbewohner denkbar macht. Unmöglich ist das nicht. Wahrscheinlicher ist indes ein vertrautes Szenario: die Fortsetzung des heute üblichen Durchwurstelns am Rand des urbanen Chaos mit gelegentlichen katastrophalen Einbrüchen.Wie wird die Zukunft der Städte — also: die Zukunft der Menschheit — aussehen? Die Frage können wir uns wohl stellen, aber wir werden keine verlässliche Antwort bekommen, argumentiert Stephen Jay Gould, der US-amerikanische Evolutionsbiologe, Wissenschaftshistoriker und Publizist. Gould hat sich unter Evolutionsbiologen einen Namen gemacht als Mitautor der Theorie vom »unterbrochenen Gleichgewicht« (englisch »punctuated equilibrium«). Sie besagt, dass die vermeintlich stetige Entwicklung des Lebens im Lauf der Erdgeschichte immer wieder durch katastrophale globale Ereignisse wie Asteroideneinschläge unterbrochen wurde. Unsere Zukunft ist, nach Goulds Worten, wie die des Lebens: »Ein Spiel, das immer nur Möglichkeiten, aber niemals Garantien bietet.«Günter HaafGrundlegende Informationen finden Sie unter:Megastädte: Ausufernde Ballungsgebiete auf dem VormarschLeben in der Stadt. Lust oder Frust, bearbeitet von Stephan Burgdorff. Hamburg 1998.Sassen, Saskia: The global city. New York, London, Tokyo. Princeton, N. J., 1991.Virtual cities. Die Neuerfindung der Stadt im Zeitalter der globalen Vernetzung, herausgegeben von Christa Maar u. a. Basel u. a. 1997.Zeiten der Stadt. Reflexionen und Materialien zu einem gesellschaftlichen Gestaltungsfeld, herausgegeben von Ulrich Mückenberger. Bremen 1998.
Universal-Lexikon. 2012.